
Geschichte
Zurück zu den NachrichtenEinfach fragen: Kriegshistoriker entdeckt eine persönliche Vergangenheit

In diesem Jahr begeht Australien den 100. Jahrestag der letzten großen Schlachten an der Westfront sowie des Waffenstillstandes von 1918 und Australier zeigen mehr und mehr Interesse an ihren eigenen Vorfahren im Militär. So erging es auch dem Journalisten und Historiker Mark Dapin.
Dapin ist der Autor zahlreicher Bücher über australische Militärkampagnen. Doch er wusste nicht, dass er selbst einen Vorfahren in der Armee hatte, bis er begann, für seine Kinder sein kulturelles Erbe zu erforschen.
Auf Ancestry entdeckte er seinen Urgroßonkel, Abraham Benjamin, ein britischer Grenadier, der 1914 im Alter von nur 22 Jahren an der Westfront starb.
„Ich hatte 2,5 Jahre damit verbracht, Juden zu befragen, deren Vorfahren im Ersten Weltkrieg dienten, während ich für Jewish Anzacs recherchierte – und mir war nicht klar, dass ich einer von ihnen bin. Das war unglaublich“, erklärte der Autor.
„Dann half ich einem dieser einhundert Menschen, einer Frau, die in der Nationalbibliothek nach Ihrem Urgroßvater suchte.
Wir fanden seinen Namen und waren total geschockt. Wir lasen auf dem Bildschirm seine Biografie … Sie hatte Tränen in den Augen. Auch ich begann fast zu weinen.“
Rückblickend sieht Mark durchaus, wie ihm das Offensichtliche so einfach entgehen konnte.
„Abraham Benjamins Geschichte war in meiner Familie niemals ein Thema. Der Krieg führte zu sehr viel Traurigkeit – so viele Männer starben so jung – und die die Menschen wollten diese Traurigkeit nicht weitergeben. Nach dem Krieg legte sich ein überwältigender Pazifismus über die Gesellschaft und insbesondere in jüdischen Familien zögert man, die Verbindungen zum Militär anzusprechen“, sagte Dapin.
„Als es später zur Sprache kam, war meine Familie ,kongenital‘ verwirrt, mit so vielen Namen, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, und unzuverlässigen Erinnerungen, die sich gegenseitig nährten.“
Dapin besuchte kürzlich das Grab seines Vorfahren im Friedhof Rifle House Cemetery südlich von Ypern (Belgien) und sah sich die Urkundenpapiere an.

Diese Aufzeichnungen zeigen, dass der junge Abe Benjamin ein Schneiderhelfer („Frock-hand“) aus Stepney war. Der Stadtteil war damals bekannt für die vielen aschkenasischer Juden, die Ende des 19. Jahrhunderts nach Ost-London flohen, um der Verfolgung im zaristischen Russland zu entgehen.
Abes Beruf im Schneiderhandwerk war typisch für seine Zeit und seinen Ort. Jüdische Immigranten kontrollierten den Markt für Gebrauchtkleidung in der Petticoat Lane und errichteten alsbald Lumpenhandelsfabriken in der Whitechapel Road. Die jüdische Freie Schule, die Abe aller Wahrscheinlichkeit nach besuchte, bevor er dem Militär beitrat, hatte 4.300 Schüler und war damit die größte Schule der Welt.
Abe folgte seinem Vater in das Schneiderhandwerk und wer weiß, was er erreicht hätte, hätte sein Leben nach nur dreieinhalb Monaten an der Westfront nicht jäh geendet. Das Tagebuch seines Bataillons enthüllt, dass er an dem Tag, an dem er starb, am 6. Dezember 1914, nicht kämpfte, sondern höchstwahrscheinlich während des Baus von Befestigungsanlagen von einem Scharfschützen oder durch einen Granateinschlag getötet wurde.
„Im In Flanders Field Museum konnte ich es noch immer nicht glauben. Ich hatte nicht erwartet, Aufzeichnungen zu finden“, gab Dapin zu.
„Ich dachte: ,Seine Existenz sollte mir bereits bekannt sein. Diese Tatsache kann mir doch nicht entgangen sein.‘
Aber ich gab seinen Namen in die Datenbank ein und seine persönlichen Informationen erschienen. Da war er … Ich hatte Gänsehaut.
Dann fand ich sein Grab. Es war mit einem Davidsstern verziert. Es war wunderschön in dem Waldgebiet und ein Rehkitz spazierte vorbei. Ich stellte mir vor, dass das junge Reh Abes Geist verkörperte.
Ich stand einfach nur da und sah mir den Grabstein an. Ich dachte bei mir: ,Es ist wahr. Er lebte.‘ Abraham Benjamin lebte und wurde vergessen … aber er geriet nie ganz in Vergessenheit.
Auf Abes Grab lagen drei Steine. Dies ist der jüdische Brauch [Mitzvah] der Erinnerung. Andere erinnerten sich also auch an ihn.
Es ist leicht, in die Falle zu tappen, und einen Vorfahren zu glorifizieren, im Abglanz dieses Ruhms zu baden. Doch dieser Moment führte bei mir zu größerer Wertschätzung.
Es ist wichtig, sich die Aufzeichnungen über die Dienstzeit, die Monumente und die Friedhöfe anzusehen – zu sehen, wie groß sie sind –, um die Zerstörung und die unvorstellbaren Opfer des Ersten Weltkrieges zu verstehen.
Für alle, die Fragen über die militärische Familiengeschichte haben: Ich rate Ihnen, diese Fragen einfach zu stellen. Beginnen Sie bei Familienmitgliedern oder forschen Sie online.”
Weiterführende Literatur
- Simon Fowler. Tracing Your Great War Ancestors: Ypres – A Guide for Family Historians. Barnsley, South Yorkshire: Pen & Sword, 2015.
- Mark Dapin. Jewish Anzacs: Jews in the Australian Military. Sydney: NewSouth, 2017.